Reform der multilateralen Entwicklungsbanken: Wir müssen Gelder freisetzen, um die Belastung durch unbezahlte Betreuungsarbeit zu reduzieren
Unbezahlte Care-Work: Überblick
Etwa die Hälfte der weltweit geleisteten Arbeit ist unbezahlt. Und Frauen und Mädchen verrichten den Großteil davon: Vom Wasserholen über den Anbau, den Kauf und die Zubereitung von Lebensmitteln bis hin zur Pflege von Kindern, Kranken und älteren Menschen. Diese Arbeit ist das Rückgrat der Gesellschaft. Im Gegensatz zu vielen Männern und Jungen, die die Schule besuchen und sich eine bezahlte Arbeit suchen können, erbringen sie lebenswichtige (unbezahlte) Dienstleistungen. Der Weltwirtschaft entgehen durch die unbezahlte Arbeit von Frauen und Mädchen etwa 10,8 Billionen US-Dollar. Außerdem werden damit häufig unzureichende öffentliche Ausgaben und begrenzte Sozialleistungen kompensiert. So verbringen Frauen und Mädchen beispielsweise täglich 200 Millionen Stunden mit dem Sammeln von Wasser. Das könnte durch größere Investitionen in die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung vermieden werden. Der Zugang zu öffentlich finanzierter Kinder- und Altenbetreuung, Internet, sanitären Einrichtungen und Strom verringert die Belastung von Frauen durch unbezahlte Arbeit.
Die Ungerechtigkeit für Frauen und Mädchen ist vielschichtig. Von ihnen wird erwartet, dass sie diese Arbeit aufgrund ihres Geschlechts verrichten (und sie sind oft auch dazu bereit). Zusätzlich tragen sie erhebliche Opportunitätskosten. Die Aufgaben halten sie oft davon ab, einer offiziellen Arbeit oder Ausbildung nachzugehen, was sie in prekäre informelle Positionen drängt. Das wiederum beraubt sie sowohl der Möglichkeit der beruflichen (Weiter-)Entwicklung, als auch der Ansprüche auf Renten-, Sozial oder Gesundheitsleistungen, die oft mit einer offiziellen Beschäftigung einhergehen. Die physische und psychische Belastung durch unbezahlte Arbeit führt zu Angstzuständen, Depressionen und körperlichen Erkrankungen. Eine Studie ergab, dass Vollzeit-Hausfrauen mittleren Alters im Vergleich zu Frauen in anderen Berufen ein fünfmal höheres Risiko für mentale Beeinträchtigungen haben.
Unbezahlte Arbeit in Zeiten von Krisen
In Krisenzeiten ist die Belastung noch größer, wie das Beispiel COVID-19 zeigte. Der Anteil der Frauen, die ihre Arbeit aufgaben, um jemanden zu pflegen, stieg während der Pandemie um 10 %. Und über alle Einkommensgruppen hinweg übernahmen Frauen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an zusätzlicher Pflegearbeit. Dies ist zum Teil auf die geschlechtsspezifische Erwartung zurückzuführen, dass Frauen den Großteil der Pflegearbeit leisten. Zum Teil aber auch darauf, dass Frauen eher im informellen Sektor und in Branchen arbeiten, die durch die COVID-19-Schließungen eingeschränkt waren.1
Die Belastung der Frauen wird durch die Schuldenlast noch vergrößert
Schon vor der Pandemie hatten einkommensschwache Länder Schwierigkeiten, die sozialen Dienste zu finanzieren, die Gleichberechtigung fördern. Obwohl die Welt große Fortschritte bei der Einführung von sozialen Sicherungssystemen gemacht hat, wurden nur 10 % der seit 2010 angekündigten Maßnahmen in Ländern mit geringem Einkommen durchgeführt; zwei Drittel entfielen auf Länder mit hohem und mittlerem Einkommen. Dabei sind 17,4 % der Menschen in Afrika durch mindestens eine Sozialdienstleistung abgesichert, verglichen mit 46,9 % weltweit. Soziale Sicherungssysteme sind von entscheidender Bedeutung: Geldtransfers können als Ausgleich für die Zeit, die für Pflegearbeiten aufgewendet wird, zur Verfügung gestellt werden. Oder auch eine staatlich geförderter Gesundheitsversorgung für informelle oder unbezahlte Arbeitskräfte, die sich diese nicht durch eine offizielle Beschäftigung sichern können.
Schulden verhindern Investitionen
Diese zu geringe Investition hat lange Zeit die Gleichberechtigung der Geschlechter und auch das Wirtschaftswachstum behindert. Heute haben viele dieser Länder mit geringem Einkommen mit der Rückzahlung ihrer Schulden an Regierungen und private Anleihegläubiger zu kämpfen: Die weltweite Verschuldung ist um 45 Billionen Dollar höher als vor der Pandemie und Expert*innen warnen davor, dass wir auf eine Welle von Zahlungsausfällen zusteuern. 56 % der untersuchten afrikanischen Länder sind bankrott oder hochgradig schuldengefährdet, wobei die Kosten für die Rückzahlung der Schulden in die Höhe schnellen: Im Jahr 2023 schulden die afrikanischen Länder 69 Milliarden US-Dollar, was mehr ist als die gesamten finanziellen Entwicklungsleistungen für den Kontinent im Jahr 2021 zusammen. Dafür müssen Frauen unverhältnismäßig häufig die Rechnung bezahlen. Die afrikanischen Länder geben inzwischen mehr für den Schuldendienst als für die Gesundheitsversorgung aus. Dies ist besonders bedenklich, da Gesundheit, Bildung und andere soziale Dienste in Zeiten steigender Schulden in der Regel als erstes gekürzt werden. Ghana zum Beispiel hat seine Gesundheitsausgaben in den letzten Jahren um fast die Hälfte gekürzt – als direkte Konsequenz der hohen Verschuldung. 41.000 Krankenpfleger*innen (die meisten von ihnen Frauen) sind arbeitslos, obwohl ein großer Mangel an medizinischem Personal herrscht. In Nigeria werden im Jahr 2023 30 % des Bundeshaushalts für den Schuldendienst aufgewendet; das ist fast doppelt so viel wie die Ausgaben für Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung zusammen. Im Jahr 2023 müssen vermutlich 143 Länder – in denen 85 % der Weltbevölkerung leben – Sparmaßnahmen ergreifen. Das könnte die Fähigkeit der Regierungen zur Bereitstellung von Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialschutz und anderen öffentlichen Dienstleistungen untergraben. Wie der UN-Sachverständige für Schulden und Menschenrechte bekräftigt hat, fängt die unbezahlte Arbeit von Frauen ungerechterweise wirtschaftliche Schocks ab. Sie trägt damit häufig zu Sparmaßnahmen bei: Die Kürzungen bei den sozialen Diensten verstärkt häufig die Nachfrage nach unbezahlter Betreuungsarbeit und verfestigt Ungleichheiten.
Was wir tun können
Frauen können ihr Potenzial einfach nicht ausschöpfen, wenn sie de facto die Schockabsorber von Wirtschaftskrisen sind. Wir müssen Gelder freisetzen, die für die Ausweitung von Programmen und Dienstleistungen erforderlich sind, um die Abhängigkeit von der unbezahlten Arbeit von Frauen zu verringern. Das ist für die Verwirklichung ihres Potenzials und ihrer Menschenrechte von entscheidender Bedeutung. Deshalb setzt sich ONE neben der Umstrukturierung und dem Erlass von Schulden auch für Reformen der multilateralen Entwicklungsbanken (MDBs) ein, die eine wesentlich nachhaltigere Finanzierung ermöglichen und öffentliche Dienstleistungen finanzieren könnten. Die multilateralen Entwicklungsbanken verfügen zusammen über ein Vermögen von über 1,8 Billionen US-Dollar und könnten Hunderte von Milliarden – bis zu einer Billion Dollar – mehr an neuen Krediten vergeben, wenn sie dieses Kapital effizienter einsetzen würden. Doch derzeit sind sie zu langsam, zu unflexibel, zu verschlossen und zu vorsichtig, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Die MDBs so zu reformieren, dass sie für die Welt von heute gewappnet sind, bedeutet, dass sie nicht nur die Art und Weise, wie sie ihr Kapital verwalten, reformieren müssen. Um ihnen die nötige finanzielle Schlagkraft zu verleihen, müssen sie auch ihre Arbeitsweise reformieren. Mehr über diese notwendige Reform kannst du hier lesen.