Um das Coronavirus zu besiegen, brauchen wir vor allem eins: Impfstoff, und zwar ganz viel. Die gute Nachricht: Impfstoff gibt es bereits – bisher von einigen wenigen Firmen, und weitere werden folgen.
Wir brauchen also Zeit und Geld. Zeit, um genug Impfstoff herzustellen, und Geld, um den Impfstoff für die ganze Welt zu kaufen. Geld ist nicht das Problem. Das sagt Bundeskanzlerin Merkel, das sagt Finanzminister Scholz, und das sagt EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Trotz der ehrgeizigen Äußerungen führender Politiker*innen bleibt eine besorgniserregende Diskrepanz zwischen Worten und Realität. Länder mit hohem Einkommen, die nur 14% der Weltbevölkerung repräsentieren, haben die Hälfte der verfügbaren Impfstoffe gekauft. Trotz der beeindruckenden multilateralen Mobilisierung de COVAX-Initiative, die Impfstoffe für von Armut betroffene Länder einkauft, gibt es einfach nicht genügend Corona-Impfstoff, um die globale Nachfrage zu decken.
Das Problem: Zeit haben wir nicht. Die Pandemie ist erst zuende, wenn alle Menschen weltweit Zugang zum Impfstoff haben. Solange es Menschen gibt, die keinen Zugang haben, können Mutationen entstehen, vor denen bestehende Impfstoffe nicht schützen. Darum müssen wir Mittel und Wege finden, um mehr Impfstoff herzustellen. Richtig viel Impfstoff.
Was ist das TRIPS-Abkommen und warum müssen wir es aussetzen?
Die Impfstoffhersteller, also die Unternehmen, die die Impfstoffe entwickelt haben, können ihre Produktionskapazitäten nicht einfach so erhöhen. Dafür bräuchten sie Zeit, um neue Anlagen zu bauen. Sie besitzen aber die geistigen Eigentums- und Patentrechte an dem Impfstoff, sodass niemand anders ihn einfach so herstellen darf. Das regelt das TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO). TRIPS steht für “Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights”. Natürlich könnten Pharmaunternehmen, die den Impfstoff entwickelt haben, anderen Pharmaunternehmen die Möglichkeit geben, ihn ebenfalls herzustellen. Der Impfstoff wird dann „unter Lizenz“ der Erfinders von einem anderen Unternehmen hergestellt. Tun sie aber so gut wie gar nicht – erst ein Unternehmen, AstraZeneca, lässt seinen Impfstoff unter Lizenz herstellen.
Darum haben Südafrika und Indien in der WTO beantragt, dass WTO-Mitglieder eine Ausnahmegenehmigung bekommen, um bestimmte Verpflichtungen des TRIPS-Abkommens während der Pandemie und mit Blick auf Corona-Medikamente nicht umsetzen zu müssen.
Das ist richtig und wichtig: Denn falls die Unternehmen es selbst nicht schaffen, neue Produktionskapazitäten zu schaffen, müssen andere Wege gefunden werden. Die derzeitige Pandemie erlaubt kein business as usual, und darum ist das zeitweilige und begrenzte Aussetzen von Patentrechten ein angemessenes Mittel. Geistiges Eigentum spielt zwar eine fundamentale Rolle bei der Förderung von Innovationen. Gleichzeitig ist es auch ein Schlüsselfaktor bei der Bestimmung des Zugangs, der Preisgestaltung und der Verfügbarkeit von Corona-Impfstoffen und -Medikamenten. Dabei dürfen wir nicht vergessen: die öffentlichen Investitionen, also Steuergelder, die in Forschung und Entwicklung geflossen sind, belaufen sich auf zweistellige Milliardenbeträge. Gleichzeitig steigt die Zahl der Todesopfer weltweit – inzwischen sind über 2,3 Millionen Menschen am Coronavirus gestorben. Darum haben die Verantwortlichen die Pflicht, alle Maßnahmen zu ergreifen, um diese Pandemie so schnell wie möglich zu beenden. Nur so können wir das Ende der Pandemie beschleunigen.
Noch mehr Argumente gefällig?
Ein temporärer TRIPS-Waiver, also der Aussetzung des TRIPS-Abkommens, ist ein entscheidendes Puzzlestück, um das Ausmaß und die Geschwindigkeit zu maximieren, mit der wir in der Lage sind, eine sofortige und koordinierte globale Abdeckung sicherzustellen. Wir dürfen die Fehler der AIDS-Krise nicht wiederholen, die aufgrund hoher Preise und restriktiver Eigentumsrechte zu 7,6 Millionen vermeidbaren Todesfällen allein in Subsahara-Afrika führte.
Die nationale Umsetzung des TRIPS-Waivers ist optional: Wenn der Waiver genehmigt wird, müssen die WTO-Mitglieder individuell entscheiden, ob sie ihn umsetzen wollen. Wenn Deutschland zustimmt, ermöglicht die Bundesregierung anderen Ländern, das TRIPS-Abkommen auszusetzen. Deutschland muss dies aber nicht tun.
Wir müssen uns auf die Zukunft vorbereiten: Die Welt verfügt noch nicht über die Normen oder Strategien, um bei der nächsten Pandemie besser zu reagieren. Die TRIPS-Verzichtserklärung könnte die Grundlage für realistische Diskussionen über die politische Architektur bilden, die geschaffen werden muss, um zukünftige globale Gesundheitsbedrohungen zu bewältigen.
Die nächsten Schritte
Am 19. Februar trifft sich der TRIPS-Rat der WTO zu einer informellen Sitzung. Dabei wird auch diskutiert werden, wie die Mitglieder zu dem Antrag von Südafrika und Indien stehen. Derzeit bemühen sich die beiden Staaten und viele Verbündete – unter ihnen alle afrikanischen Staaten – darum, noch mehr Unterstützer zu bekommen. Voraussichtlich Anfang März wird der Antrag dem Allgemeinen Rat der WTO, in dem alle Mitgliedsstaaten sitzen, vorgelegt. In aller Regel stimmt dieser im Konsensverfahren ab. Wenn es keinen Konsens gibt, kann auch abgestimmt werden. Für diesen Antrag bräuchte es eine Dreiviertelmehrheit.