Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze kündigte Anfang des Jahres eine Feministische Entwicklungspolitik an. Auch im Koalitionsvertrag ist der feministische Ansatz im Bereich der Außen-, Verteidigungs-, und Entwicklungspolitik im Sinne des Leitbildes einer Feminist Foreign Policy verankert. Doch was genau bedeutet das für die Entwicklungszusammenarbeit und wie können starke Worte zu starken Handlungen werden?
Kein Land der Welt hat bisher Geschlechtergerechtigkeit erreicht und laut Vereinten Nationen wird es noch 300 Jahre dauern, um dieses Ziel global zu erreichen. Geschlechterungerechtigkeit ist ein systemisches Problem und systemische Probleme bedürfen systemischer Lösungen. Der Fokus der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit lag kaum darauf, die globalen Abhängigkeitsverhältnisse und Strukturen zu ändern, die zu Geschlechterungerechtigkeit führen. Feministische Entwicklungspolitik hat das Potential, solche Lösungen anzubieten.
Feministische Entwicklungspolitik ist kein bloßer Slogan, sondern die Entscheidung, Geschlechtergerechtigkeit zum Leitprinzip der Entwicklungszusammenarbeit zu machen und substantielle Finanzierungsmittel dementsprechend auf dieses Ziel auszurichten. Sie fußt auf Menschenrechten und priorisiert die Stärkung der feministischen Zivilgesellschaft. In allen Entscheidungen stellt sie die Lebensrealitäten und Bedürfnisse derjenigen, die am meisten von entwicklungspolitischen Entscheidungen betroffen sind, in den Mittelpunkt. Feministische Entwicklungspolitik ist intersektional; sie begreift also, dass Diskriminierungen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale wie Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung gleichzeitig bestehen, zusammenwirken und neue verstärkte Formen der Diskriminierung schaffen, die die Lebensrealität und Zukunftschancen der Betroffenen beeinflusst. Sie priorisiert Multilateralismus. Dabei erkennt sie globale Abhängigkeitsverhältnisse und systemische Ungleichheiten zwischen Globalem Norden und Globalem Süden an, setzt sich dafür ein, sie zu überwinden, und ist proaktiv anti-kolonialistisch.
Feministische Entwicklungspolitik priorisiert die Stärkung der feministischen Zivilgesellschaft.
Feministische Entwicklungspolitik stellt sicher, dass feministisch ausgerichtete Organisationen und lokale Zivilgesellschaft in Partnerländern insbesondere durch substantielle Gelder unterstützt werden. Zivilgesellschaft umfasst dabei vor allem Nichtregierungsorganisationen wie etwa kulturelle Einrichtungen und Interessenvertretungen und Glaubensgemeinschaften. Sie ermöglicht es Menschen, ihre Rechte einzufordern, überwacht und gestaltet Entwicklungspolitik und ist in Entscheidungsprozessen die Stimme der Menschen, die am meisten von Armut und Ungleichheit betroffen sind. Damit ist sie unabdingbar, um das Versprechen der Agenda 2030, niemanden zurückzulassen, zu erfüllen.
Oft wurde Frauen als Teil der Zivilgesellschaft in der Entwicklungszusammenarbeit die Handlungsmacht abgesprochen; dabei wissen Frauen am besten, was ihre Gemeinschaften brauchen und wie Mittel entsprechend eingesetzt werden müssen. Um die Ziele für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) zu erreichen, fordert die Agenda 2030 eindeutig die Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaft muss also in alle Phasen der Planung und Umsetzung von Projekten federführend einbezogen werden. Sie ist Kernelement globaler Partnerschaften zur Umsetzung der SDGs (SDG 17) und außerdem Kernelement friedlicher inklusiver Gesellschaften (SDG 16).
Der größte Teil der gender-relevanten deutschen ODA (17%, 2019) wird in die Stärkung von guter Regierungsführung und Zivilgesellschaft investiert. Diese Priorität ist klug, muss jedoch weiter ausgebaut werden. Denn ohne feministische Zivilgesellschaft kann es keinen Wandel geben: Historisch betrachtet, war es stets die Mobilisierung feministischer Zivilgesellschaft, die Entscheidungsträger*innen dazu drängte, die Rechte von Frauen und Geschlechtergerechtigkeit in internationale Normen und Abkommen einzubeziehen. Das gilt nicht nur auf internationaler sondern auch auf lokaler Ebene. Françoise Girard, ehemalige Vorsitzende der International Women’s Health Coalition, schreibt in der Stanford Social Innovation Review über die Problematik der gegenwärtigen und die Notwendigkeit der Förderung feministischer Zivilgesellschaft. Oftmals werden nur kurzfristige Projekte gefördert, um schnellstmöglich messbare Erfolge zu sehen. Dies schade feministischer Gesellschaft jedoch mehr als dass es sie fördere. Zahlreiche Studien ergaben, schreibt Girard, dass kurzfristige, zeitgebundene Finanzierung zu einer Schwächung zivilgesellschaftlicher Grassroots-Bewegungen führen kann. Grund dafür ist, dass die Organisationen um die knappen Gelder konkurrieren müssen, was Kollaboration erschwert.
Frauenrechtsorganisationen sind zudem besonders von dem sogenannten „Nonprofit-Hungerzyklus“ betroffen: Sind Gelder an sehr spezifische Projektergebnisse gebunden, können sie nicht für essentielle „indirekte“ Ausgaben wie Miete oder Buchhaltungssoftware genutzt werden. Gemeinnützige Organisationen sind ohne diese Mittel nicht in der Lage, ihre Programme effektiv umzusetzen, was sie wiederum weniger attraktiv für zukünftige potenzielle Geldgeber*innen macht. Feministische Entwicklungspolitik erkennt die lokale zivilgesellschaftliche Expertise an und begreift, dass nachhaltiger Wandel Zeit erfordert und nur durch langfristige Förderung getragen werden kann. Sie versteht, dass der Einsatz der Gelder nur begrenzt von externen, kontext-fremden Institutionen vorbestimmt und Zivilgesellschaft am besten positioniert ist, um zu entscheiden, wie Gelder bestmöglich investiert werden sollten.
Feministische Entwicklungspolitik bricht kolonialistische Strukturen auf und stellt sich ihrer historischen Verantwortung.
Zu Recht wird Entwicklungspolitik dahingehend kritisiert, dass sie immer noch dazu beiträgt, Machtgefälle zwischen Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens aufrechtzuerhalten. Viele Programme werden ohne Einbeziehung lokaler Expertise und Forderungen umgesetzt und verpassen es somit, zu tatsächlich nachhaltiger Entwicklung beizutragen. Finanzierungsmechanismen wie Kredite drängen viele Länder, die bereits mit einer hohen Schuldenlast zu kämpfen haben, immer weiter in die wirtschaftliche Abhängigkeit von reichen Geberländern, darunter viele ehemalige Kolonialmächte. Diese Realität ist nicht neu, trat allerdings während der COVID-19-Pandemie besonders stark zutage.
Feministische Entwicklungspolitik zielt darauf ab, diese gewaltvollen Machtstrukturen abzubauen und neo-kolonialistische Dynamiken – beispielsweise in bilateralen Geber-Nehmer-Beziehungen – aufzubrechen. Das ist die Voraussetzung für Partnerschaften, die auf Augenhöhe stattfinden und somit zielführend auf die Nachhaltigen Entwicklungsziele und globale Gerechtigkeit hinarbeiten können. Meint es die Bundesregierung mit ihrer Ankündigung ernst, muss sie die eigene historische Verantwortung aufarbeiten und insbesondere Stimmen aus vormals kolonisierten Ländern in jeden Bereich ihrer Politik – nicht nur in die Ressorts der Außen- und Entwicklungspolitik – einbeziehen. Dazu muss sie sich auch konkret mit Forderungen nach Reparationszahlungen und Geldern für durch den Klimawandel verursachte Schäden und Verluste befassen. Ein Blick auf die Ursprünge von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe macht deutlich: Ohne die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit kann ein feministischer Ansatz nicht gelingen. Die ugandische Aktivistin, Autorin und Medienspezialistin Rosebell Kagumire formulierte treffend: “Die Außenpolitik [und damit auch die Entwicklungspolitik] muss sich der Geschichte bewusst sein. Dass wir nicht zufällig am jetzigen Zeitpunkt angekommen sind. Wir benötigen eine Politik, die sich […] um systemische Veränderung bemüht, nicht nur an Schlagwörtern aufhängt.”
ONE fordert gemeinsam mit seinen Aktivist*innen nicht umsonst seit Jahren eine Neuausrichtung der Partnerschaft zwischen Europa und Afrika. Deutschland kann sich mit seinem starken Mandat in der EU maßgeblich dafür einsetzen, neue Beziehungen aufzubauen, die beiden Kontinenten zugute kommen. In einer solchen Partnerschaft ist die EU bereit, von ihren afrikanischen Partner*innen zu lernen, anstatt von der Überlegenheit der eigenen Vorstellungen von Entwicklung und Fortschritt auszugehen. Um koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungszusammenarbeit aufzudecken und auf neue Ansätze hinzuwirken, sind Entscheidungsträger*innen überall auf der Welt auf zukunftsweisende Stimmen angewiesen. So waren beispielsweise Feminist*innen of Colour schon immer Vordenker*innen in Bezug auf eine dekoloniale, gleichberechtigte Gestaltung von Entwicklungszusammenarbeit. Ihre aktive Teilhabe an außen- und entwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen ist essentiell, um ein für alle Mal mit der vermeintlichen Universalität westlicher Ideologien zu brechen. Dieser Prozess muss damit beginnen, vor allem den Stimmen marginalisierter Gruppen zuzuhören. Degan Ali von der kenianischen Entwicklungsorganisation Adeso und Marie-Rose Romain Murphy von der ESPWA-Stiftung fordern: “Jede Person, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig ist, muss damit beginnen, ihre eigene Mitschuld an ungerechten Systemen zu hinterfragen, in denen es an Rechenschaftspflicht gegenüber der lokalen Zivilgesellschaft mangelt.” Feministische Entwicklungspolitik hat den Anspruch, koloniale Kontinuitäten in ihrer Arbeit strukturell auf allen Ebenen anzugehen, zu überwinden und dabei die eigene Position im globalen Kontext kritisch zu reflektieren.
Feministische Entwicklungspolitik spiegelt sich in der Ausrichtung von Finanzierungsmitteln wider.
Sowohl eine ausreichende Finanzierung partnerschaftlicher Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung als auch die zielgerichtete Investition dieser Gelder sind essentiell. Sie müssen dort zum Wirken kommen, wo sich intersektionale Diskriminierung und Betroffenheit von multiplen sozioökonomischen Missständen ballen. Außerdem ist erwiesen: Meilensteine wie das Erreichen der Agenda 2030 und der Agenda 2063 der Afrikanischen Union (AU) rücken in weite Ferne, wenn wir die Gleichstellung der Geschlechter nicht als Voraussetzung für globale Gerechtigkeit begreifen.
Allerdings wird diese Tatsache bisher bei der Ausgabe der Gelder für Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) schmerzlich vernachlässigt. Zwar war der Anteil bilateraler gender-relevanter ODA aller Geberländer des Development Assistance Committees (DAC) der OECD zuletzt auf einem historisch hohen Niveau (45%, 2020); nach wie vor verfehlen jedoch fast alle Länder des DAC die Zielvorgaben der OECD bezüglich Investitionen in Projekte und Partnerschaften mit Fokus auf Geschlechtergerechtigkeit. Diese Zielvorgaben, sogenannte Policy Marker, sehen vor, dass mindestens 85 Prozent der ODA in Initiativen für Gleichberechtigung fließen und davon wiederum mindestens 20 Prozent Geschlechtergerechtigkeit nicht nur als Neben- sondern als klares Hauptziel definieren.
Für die Bundesregierung gibt es noch viel Luft nach oben: Deutschland gab 2020 gerade einmal 44 Prozent seiner ODA für gender-relevante Projekte aus – davon verfolgten nur knapp 2 Prozent Gleichberechtigung als Hauptziel. Obwohl Deutschland monetär gesehen größter Geber in diesem Bereich ist (8,9 Mrd. USD, 2020), zeigt eine Analyse der Gesamtausgaben keinerlei feministischen Ansatz. Geschlechtergerechtigkeit voranzutreiben, bedeutet ausreichend in Schlüsselsektoren für Gleichberechtigung wie Bildung und Gesundheit zu investieren. Die Bundesregierung sollte dabei insbesondere auf multilaterale Instrumente wie die Globale Bildungspartnerschaft (GPE) und den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM) setzen, die maßgeblich zum immensen Fortschritt der letzten Jahrzehnte beigetragen haben. Sie haben die Möglichkeit, Beiträge von Regierungen zu bündeln und somit wirkungsvoller in den jeweiligen Sektoren zu investieren. Feministische Entwicklungspolitik stellt sicher, dass der Schutz und die Stärkung der marginalisiertesten Gruppen mit einer entsprechenden Verteilung von Ressourcen einhergeht.