Als eins der letzten afrikanischen Länder hat Uganda am 10. Januar 2022 seine Schulen wiedergeöffnet – nach 83 Wochen pandemiebedingter Schließung. Man könnte meinen, damit wäre das Schlimmste für die stille Bildungskrise überstanden – Fehlanzeige. Erst jetzt zeigen sich die wahren verheerenden Folgen der Coronapandemie, insbesondere für Kinder in von Armut betroffenen Ländern.
Wenn Kinder in ganz Afrika nun wieder zur Schule gehen, werden sie möglicherweise eine ganz andere Situation vorfinden als die, die sie vor der Pandemie zurückgelassen haben. In einigen Schulen werden die Klassen kleiner sein, weil die Abbrecherquoten hoch sind, vor allem bei Mädchen. Die Coronapandemie hat in Afrika eine ganze Generation aus dem Bildungssystem ausgeschlossen. Millionen von Kindern in afrikanischen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen werden aus verschiedenen Gründen nicht in die Schulen zurückkehren, sobald diese wieder geöffnet werden. Einer der Gründe: Der Verlust des Lebensunterhalts der Familie während der Pandemie, der es den Eltern nun unmöglich macht, das Schulgeld zu bezahlen. In Südafrika haben im ersten Jahr der Pandemie schätzungsweise 750.000 Schüler*innen die Schule verlassen. Eine Studie ergab, dass 10 Prozent der Befragten angaben, mindestens ein Kind in ihrem Haushalt wäre im Jahr 2021 nicht zur Schule zurückgekehrt.
Eine Studie in Kenia ergab, dass 16 Prozent der Mädchen und 8 Prozent der Jungen 2021 nicht mehr zur Schule gehen werden, nachdem diese fast ein Jahr lang geschlossen waren. Ruth Kagia, die stellvertretende Stabschefin im Büro des kenianischen Präsidenten sagte, dass die negativen Folgen der hohen Schulabbrecher*innenquote noch jahrzehntelang zu spüren sein werden: „Die Pandemie vertieft bereits bestehende Ungleichheiten und legt Schwachstellen im Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftssystem offen, die wiederum die Auswirkungen der Pandemie verstärken.“
In einigen Ländern wurden Mädchen, die wegen der Schulschließungen nicht zur Schule gehen konnten, mit der Hausarbeit betraut. Viele Eltern, vor allem diejenigen, die der Bildung von Mädchen wenig Bedeutung beimessen, könnten versucht sein, ihre Töchter zu Hause zu behalten, wenn die Schulen diesen Monat wieder öffnen.
Verschärfung der Ungleichheiten
Studien aus dem Jahr 2020 haben ergeben, dass durch Schulschließungen etwa 90 Prozent der Schüler*innen weltweit die Schule verlassen haben; darunter 800 Millionen Mädchen. Millionen von Kindern, die keinen Zugang zu E-Learning oder Heimunterricht hatten – sowohl Jungen als auch Mädchen – erhielten in den letzten zwei Jahren nur wenig oder gar keine Bildung. Einige Schulen in Afrika werden erst jetzt nach einer Unterbrechung von fast zwei Jahren wieder vollständig geöffnet, darunter auch Uganda.
Diese langen Schulschließungen werden Ungleichheiten weiter verstärken: Zwischen denjenigen, die ihre Ausbildung mit Heimunterricht oder E-Learning fortsetzen konnten, und denjenigen, die dies nicht konnten. Die meisten Kinder, die während der Schließung keinen Unterricht erhalten haben, werden wahrscheinlich Klassen wiederholen müssen, um ihren Rückstand aufzuholen. Das bedeutet, dass sie hinter Gleichaltrigen zurückbleiben werden. Einige werden die Schule vielleicht sogar ganz abbrechen. Laut Conrad Hughes, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter an der Universität Genf, führen große Lernlücken zu sogenannten „versteinerten Fehlern oder Lücken“. „Das ist wie ein Haus, das ohne Fundament gebaut wird“, erklärt er.
Einige Schulen in Kenia schafften es besser als andere, sowohl Jungen als auch Mädchen in der Schule zu halten. William Wambugu, der Schulleiter der Ndaragua Primary School in Nyahururu, Kenia, sagte, dass die Schule bereits vor Ausbruch der Pandemie ein Beratungsprogramm zur psychosozialen Unterstützung von Schülerinnen anbot. „Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass keines unserer Mädchen schwanger geworden ist und alle Schüler*innen dieses Jahr zurückgekehrt sind“, sagte er.
Teenagerschwangerschaften, frühe Heiraten und sexuelle Gewalt
Die Schule von Wambugu gehört zu den glücklichen Ausnahmefällen. Teenagerschwangerschaften und frühe Eheschließungen stören die Bildung von Mädchen in ganz Afrika. In der südafrikanischen Provinz Gauteng ist die Zahl der Teenagerschwangerschaften seit Beginn der Pandemie um 60 Prozent gestiegen. Dies wird auf eine Reihe von Faktoren zurückgeführt, unter anderem auf den mangelnden Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitserziehung, den stark eingeschränkten Zugang zu Verhütungsmitteln während der Schließung von Schulen und auf die Gefahr von sexueller Gewalt.
Ein Anstieg der ungewollten Schwangerschaften während einer Gesundheitskrise ist kein neues Phänomen. Während des Ebola-Ausbruchs in Westafrika im Jahr 2014 stieg die Zahl der Teenagerschwangerschaften sprunghaft an. In Sierra Leone stieg die Zahl der Schwangerschaften bei jugendlichen Mädchen um 65 Prozent. Viele von ihnen durften anschließend nicht mehr zur Schule gehen.
Das kenianische Gesundheitsministerium verzeichnete im ersten Jahr der Pandemie 328.000 Teenagerschwangerschaften. Schon vor der Pandemie hatte Kenia eine der höchsten Schwangerschaftsraten im Teenageralter weltweit: Zwei von zehn Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren waren schwanger oder hatten bereits ein Kind.
„In einigen Ländern beobachten wir größere Lernverluste bei Mädchen und ein erhöhtes Risiko für Kinderarbeit, geschlechtsspezifische Gewalt, frühe Heirat und Schwangerschaft“, sagt Peter Jenkins, der Direktor für Bildung bei UNICEF.
Während der Schulschließungen werden Mädchen anfälliger für sexuellen Missbrauch und Ausbeutung, da sie nicht mehr den Schutz haben, den Schulen bieten. Etwa drei Viertel der in der Kenia-Studie befragten heranwachsenden Mädchen gaben an, dass sie während der Schulschließungen mehr sexuellen, körperlichen oder emotionalen Missbrauch erlebt oder miterlebt haben. Sie führten dies auf Spannungen zurück, die durch den Verlust des Familieneinkommens, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit während der Schulschließung oder durch ungewollte Schwangerschaften entstanden. Offizielle Daten aus Kenia zeigen, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen im Jahr 2020 dramatisch angestiegen ist – von 5.397 gemeldeten Fällen im Jahr 2019 auf 6.801 im Jahr 2020. Das entspricht einem Anstieg von 26 Prozent.
Manche Eltern verheiraten auch Mädchen, die nicht in der Schule sind. Viele Eltern, die während der Pandemie ihren Lebensunterhalt verloren haben, haben ihre schulpflichtigen Töchter gegen eine Mitgift verheiratet. In Kenia gaben 16 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren, die im ersten Jahr der Pandemie verheiratet wurden, COVID-19 die Schuld und meinten, dass sie sonst nicht verheiratet worden wären. Im März 2021 warnte UNICEF, dass weltweit 10 Millionen Mädchen durch die Coronapandemie von Kinderheirat bedroht sind. Äthiopien und Nigeria gehören zu den Ländern mit den höchsten Kinderheiratsraten in Afrika.
„Geschlossene Schulen, die Isolation von Freund*innen und Unterstützungsnetzwerken und die zunehmende Armut haben das Feuer [Kinderheirat], das die Welt ohnehin schon kaum löschen konnte, weiter angefacht“, so Henrietta Fore, UNICEF-Exekutivdirektorin.
The COVID-19 crisis is a child rights crisis.
To save lives, stop deadly variants, and prevent further damage to children’s futures, wealthy countries must share vaccines now. pic.twitter.com/7oocVu8130
— UNICEF (@UNICEF) January 11, 2022
Die langfristigen wirtschaftlichen Kosten
Unzählige Studien haben gezeigt, dass es einen starken Zusammenhang zwischen kontinuierlicher Schulbildung und späterem Einkommen gibt. Der Verlust von Bildung und Fähigkeiten bei den heutigen Schüler*innen wird langfristige wirtschaftliche Auswirkungen haben. Die Länder, die am stärksten von hohen Schulabbrecherquoten betroffen sind, werden einen erheblichen Verlust an Fähigkeiten und Bildung in ihrer jungen Bevölkerung erleiden. Außerdem wird es für sie schwieriger sein, das UN-Ziel für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, das darin besteht, eine inklusive und gerechte Bildung von hoher Qualität zu gewährleisten und lebenslange Chancen für alle zu fördern.
Laut einem neuen Bericht von Weltbank, UNESCO und UNICEF werden die wirtschaftlichen Kosten dieser Unterbrechungen weltweit enorm sein. „Diese Generation von Schüler*innen läuft Gefahr, durch COVID-19-bedingte Schulschließungen 17 Billionen Dollar an Lebenseinkommen zu verlieren, was etwa 14 Prozent des heutigen globalen BIP entspricht“, heißt es in dem Bericht.