Es ist Mitte Oktober in einem Hinterhof der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Im Untergeschoss einer ehemaligen Seifenfabrik trifft Kunst auf Politik. Sieben politische Kunstwerke von Künstlerin Josephine Rais ziehen die Aufmerksamkeit auf das Thema Hungerkrise. Eröffnet am Welternährungstag, dem 16. Oktober 2022, hat unsere politische Kunstausstellung eine Woche lang Besucher*innen dazu eingeladen sich mit den Fragen, Antworten und Handlungsmöglichkeiten rund um das Thema Hunger auseinanderzusetzen.
Um das Thema sowohl einfach verständlich als auch visuell ansprechend zu machen, erzählt Designerin und Illustratorin Rais für uns in ihrer Kunst eine politische Geschichte. Dabei verwendet sie bunte Farbtöne, die als Blickfänger fungieren, und Schattierungen, die ihren Bildern Tiefe verleihen. Das, gekoppelt mit einem surrealistischen Stil, erlaubt dem*der Betrachter*in sich in das Bild hineinzuversetzen und sich dabei auf die besonders auffällige und wesentliche Botschaft zu konzentrieren. Wir produzieren weltweit 1,5-mal so viele Nahrungsmittel, wie wir brauchen, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren, haben also #MehrAlsGenug für alle. Trotzdem leidet ein Drittel der Welt an Nahrungsmittelknappheit oder ist vom Hunger bedroht, während ein Drittel aller weltweit produzierten Nahrungsmittel weggeworfen wird. Es geht also nicht darum wie viel wir anbauen, sondern wo wir Nahrungsmittel anbauen und wie wir dann mit ihnen umgehen. Die Hungerkrise kann beendet werden, wenn ihre Ursachen beseitigt werden.
Das Thema der Hungerkrise ist nicht neu, aber gerade jetzt, wo multiple Krisen zeitlich zusammenfallen und sich gegenseitig verschlimmern, ist es unerlässlich sich mit diesem Thema intensiv auseinander zu setzten. Aktuell sind mehr als 800 Millionen Menschen auf der ganzen Welt von Hungersnöten, Hunger und schwerer Unterernährung bedroht. Die sieben Illustrationen unserer Ausstellung zeigen, warum das so ist und wie wir und insbesondere die Politik das ändern kann. Ein kuratierter Rundgang durch die Ausstellung von Aischa Hikari-Fall.
Die erste Illustration zeigt Grundnahrungsmittel aus der ganzen Welt – von Reis über Maniok bis hin zu Linsen. Als Grundnahrungsmittel werden die Nahrungs- bzw. Lebensmittel bezeichnet, die in der jeweiligen Kultur die Grundversorgung mit lebenswichtigen Nährstoffen für die menschliche Ernährung darstellt. Doch der Zugang zu diesen Grundnahrungsmitteln wird in vielen Teilen der Welt immer schwieriger. Es zeigt sich, dass die ansteigenden Importpreise als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine aber auch die Pandemie und der Klimawandel starke Auswirkungen auf die Ernährungsweise der Bevölkerung vieler afrikanischer Länder haben, insbesondere in Westafrika. Diese Länder weichen vermehrt auf andere Grundnahrungsmittel aus, wie Kassava, Yams und Maniok.
Das Bild wirkt sehr bunt und ist dadurch sehr auffällig. Dies unterstreicht die Vielfältigkeit der möglichen Grundnahrungsmittel weltweit: So viele Quellen für lebenswichtige Nährstoffe sind vorhanden und doch leiden Millionen von Menschen Hunger, weil in vielen Ländern der Zugang zu ihnen fehlt.
Die zweite Illustration steht inmitten von mehreren Pflanzen. Sie macht deutlich, dass zwar in Regionen Afrikas die eigene Landwirtschaft grundsätzlich zur Selbstversorgung dienen kann, allerdings wird dies aufgrund des Klimawandels immer schwieriger und in einigen Regionen unmöglich. In Industrieländern, wie Deutschland, wird Ackerfläche vorwiegend für Bauprojekte verwendet. In Ländern, die stark von Armut betroffen sind, ist der Klimawandel schuld. Die Folge ist, dass immer mehr fruchtbarer Boden – die Grundlage unserer Ernährung und der Speicher von CO2– verloren geht.
Die Illustration zeigt eine Frau, die ihre Hand beschützend über eine bereits fast ausgedörrte kleine Pflanze hält, während im Hintergrund die pralle Sonne zu sehen ist. Ein Kontrast dazu vermittelt die Umgebung, in der die Illustration steht. Umgeben ist sie nämlich von blühenden Pflanzen. Die Botschaft wird klar: Der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlage vieler Menschen. Wo Potential für eine effiziente Selbstversorgung liegt, wird dieses zerstört und die von Armut betroffenen Länder haben nicht die Mittel, um dagegen vorzugehen – symbolisiert wird dies dadurch, dass die Frau in der Illustration lediglich ihre Hand zur Verfügung hat, um die kleine Pflanze zu beschützen.
Die dritte Illustration zeigt zwei Gerichte: Die deutsche Kartoffelsuppe und die Mafé, ein traditionelles Gericht Senegals. Die Illustration steht neben einem runden gedeckten Tisch, bei dem auf den Tellern die Informationen der Zutaten zu den Gerichten zu finden sind. Zudem bietet ein Video auf einem iPad einen Blick hinter die Illustration und begleitet die Künstlerin bei ihrem kreativen Prozess.
Immer mehr Länder sind im Zuge des Klimawandels und der damit einhergehenden fehlenden Möglichkeiten der Selbstversorgung auf den Import von Grundnahrungsmittel angewiesen. Der russische Angriffskrieg, der zu Exportbeschränkungen und -verboten geführt hat, erschwert den Ländern des Globalen Südens zusätzlich die Versorgung der eigenen Bevölkerung. Die Illustration, verbunden mit der Zutatenliste, die auf dem runden Tisch zu finden ist, macht die Abhängigkeit Senegals von importierten Nahrungsmitteln deutlich und zeigt auf, dass im Gegensatz zu Deutschland die Importabhängigkeit viel stärker ist: Während Deutschland nur 5-10 % seiner Zutaten für die Kartoffelsuppe importieren muss, importiert Senegal etwa 70 %. Die Hungerkrise ist also abhängig vom Handel.
Die vierte Illustration zeigt eine große Waage, in der Mitte ist die Weltkugel zu sehen. Auf der einen Seite der Waage liegt Münzgeld, auf der anderen eine Tomate. Das Münzgeld ist deutlich schwerer als die Tomate.
Sowohl die steigende Inflation aufgrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine als auch die wirtschaftlichen Auswirkungen infolge der Corona-Pandemie führen dazu, dass die von Armut betroffenen Länder, denen ohnehin finanzielle Mittel fehlen und die Verschuldungen auf sich nehmen mussten, handlungsunfähig sind. Sie können ihre Wirtschaft und Bevölkerung nicht unterstützen. Lösungen sind die Sicherstellung von stabilen Preisen für Grundnahrungsmittel und Dünger und die Ermöglichung von Schuldenerleichterungen und finanziellen Spielräumen, damit die Länder des Globalen Südens ihre Bevölkerung effektiv unterstützen und Krisen abwenden können.
Die Illustration wird dadurch unterstützt, dass auf einem Tisch neben ihr die Illustration nachgebaut ist: Auf einem kleinen Tisch liegt eine Waage mit Plastiktomaten auf der einen Seite und Schokolade in einer Verpackung, die aussieht, als wäre es Münzgeld, auf der anderen. Dies macht die Verteuerung für Lebensmittel ganz deutlich. Hunger ist also vom Preis abhängig.
Nun näheren wir uns dem Höhepunkt der Ausstellung. Die fünfte Illustration zeigt drei ausdruckstarke Frauen. Zwei von ihnen halten Weizen in ihren Armen und eine stützt einen Sack Reis. Diese Illustration steht in einer kleinen Kabine in der Mitte des Raumes. Ausgestattet ist diese Kabine mit Stroh, einem Sack Reis und Informationsblättern. Akustisch ist die Atmosphäre durch Naturgeräusche untermalt.
Frauen machen weltweit die Hälfte der Arbeitskraft in der Landwirtschaft aus, dabei besitzen sie deutlich weniger Land. Wenn Besitz in der Landwirtschaft geschlechtergerecht aufgeteilt wäre, würden die Erträge steigen. Denn Personen, die über ihr eigenes Land verfügen, haben auch Zugang zu finanziellen Mitteln und Weiterbildung, um ihre Produkte zu verbessern. Mehr Geschlechtergerechtigkeit würde dazu führen, dass es 17 % weniger auf der Welt gäbe.
Die drei Frauen auf der Illustration wirken durch ihren leicht angehobenen Kopf und den aufgerichteten Blick stark und selbstbewusst. Dadurch unterstreicht sie das Potential, dass in Frauen und Mädchen im Rahmen der Landwirtschaft liegt. Hunger ist sexistisch, weil der Hunger dadurch bekämpft werden kann, wenn die diskriminierenden Strukturen aufgebrochen werden.
Die sechste Illustration zeigt zahlreiche Lebensmittel, die in einer Mülltonne landen: Dabei sind viele Lebensmittel noch genießbar. Beispielsweise ist das Mindesthaltbarkeitsdatum für Joghurt auf dem Bild das Jahr 2025 und trotzdem landete es jetzt schon im Müll, außerdem ist der Apfel noch prall und rot.
Während ein Drittel der Weltbevölkerung von Nahrungsmittelknappheit betroffen ist, landet ein Drittel allen Essens, das wir anbauen, im Müll. Das sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen weltweit 931 Millionen Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr. In Industrieländern wird jährlich fast so viel weggeworfen, wie in Ländern südlich der Sahara überhaupt produziert wird – 230 Millionen Tonnen. Das ist eine Lebensmittelverschwendung großen Ausmaßes und dies bedeutet nicht nur eine Verschwendung der Lebensmittel an sich, sondern auch eine Verschwendung der Ressourcen, die für die Produktion dieser Lebensmittel aufgewendet wurden.
Die Illustration ist sehr bunt. Im Vordergrund steht eine riesige Mülltonne, die mit noch genießbaren Lebensmitteln bis über den Rand gefüllt ist. Im Hintergrund sind die einzelnen Lebensmittel nur noch als bunte Punkte in gigantischen Müllbergen zu erkennen. Diese Darstellung vermittelt das extreme Ausmaß der Lebensmittelverschwendung. Statt dass die Lebensmittel weggeschmissen werden, können sie noch verzehrt werden und zahlreiche Menschen vor Hungersnöten bewahren. Lebensmittelverschwendung führt damit zu Hunger.
Die siebte und letzte Illustration zeigt Demonstrierende, die Schilder hochhalten und dafür kämpfen, dass Hunger und all seine Ursachen weltweit beendet wird. Deutlich ist der Hashtag #MehrAlsGenug zu sehen. An dieser Illustration können Besucher*innen Fotos von sich machen, wobei sie Schilder mit Botschaften halten können. Der interaktive Teil der Ausstellung rundet sie ab und ruft Besucher*innen zum Abschluss zum Handeln auf. Denn jede*r von uns kann seine Stimme gegen Hunger einsetzen, die Politik in die Verantwortung ziehen und on- oder offline für eine bessere Welt für alle kämpfen.