Stell dir vor, die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands würde seit etwas mehr als einem Monat Hunger leiden. Ungefähr das hat der russische Angriffskrieg in der Ukraine, gepaart mit den Folgen des Klimawandels, zufolge – mit dem Unterschied, dass die rund 38 Millionen Menschen, die nun zusätzlich von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, hauptsächlich auf dem afrikanischen Kontinent leben.
Diese Ernährungskrise besteht allerdings keineswegs einzig und allein aufgrund des fortwährenden Kriegs. Sie ist Resultat vieler Faktoren: Von den Auswirkungen der Klimakrise über die fehlende Unterstützung für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bis hin zur Duldung stetig anwachsender Schuldenberge in von Armut betroffenen Ländern. Hunger ist seit Jahrzehnten ein Problem, das internationale Aufmerksamkeit verdient.
Doch genauso wie die COVID-19-Pandemie soziale Ungleichheiten verschärft und ins Scheinwerferlicht gerückt hat, wirkt der Angriffskrieg in der Ukraine auf globale Ernährungsunsicherheit: Die Lage spitzt sich aktuell noch schneller und drastischer zu, Staats- und Regierungschef*innen weltweit überdenken ihre Prioritätenliste. So auch die G7-Länder unter der diesjährigen Präsidentschaft Deutschlands.
Wir stellen 3 Gründe vor, weshalb Ernährungssicherheit schon seit langem auf der Agenda ganz oben stehen sollte.
1. Inflation steigt seit 2021 stetig an
Im Februar 2022 lagen allgemeine Verbraucher*innenpreise beinahe 8 Prozent höher als im Vorjahr. Das ist der steilste Anstieg seit 40 Jahren. Bereits vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine meldete der Food Price Index der Food and Agricultural Organization (FAO) einen Anstieg von Lebensmittelpreisen um mehr als 24 Prozent im Vergleich zu 2021 – das entspricht einem monatlichen Anstieg von rund 4 Prozent. Insbesondere Pflanzenöle und Milchprodukte wurden signifikant teurer. Ausschlaggebend waren schlechte Ernteerträge durch ungünstige Wetterbedingungen, Naturkatastrophen und die andauernden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. So kam es beispielweise zu ausbleibenden Erträgen und dem massenhaften Sterben von Nutztieren in Ostafrika, wo Menschen in Äthiopien, Kenia, Somalia und Djibouti die längste Dürre seit vier Jahren erlebten.
Doch das ist nicht alles. FAO-Wirtschaftsexperte Upali Galketi Aratchilage schreibt die Inflation von Lebensmittelpreisen auch Faktoren außerhalb der Produktionsketten zu, wie Energie- und Düngerpreisen- und -lieferungen. Nun kommen auch noch erschwerend die Auswirkungen von Putins Invasion der Ukraine hinzu. Insbesondere Lieferketten für Getreide und Pflanzenöle sind stark beeinträchtigt oder fallen ganz aus. Das stellt von Armut betroffene Länder vor eine weitere Herausforderung in einer von multiplen Krisen gezeichneten Zeit. Laut FAO könnten der Krieg und die damit verbundenen Ernteausfälle globale Lebensmittelpreise um weitere 8 bis 22 Prozent nach oben treiben.
Die Weltbank warnte bereits, dass dadurch in Niedrig- und Mitteleinkommensländern Millionen von Menschen in die Armut abrutschen könnten. In vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara geben Menschen bereits rund 40 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Eine ausreichende Ernährung wird insbesondere in Regionen der Welt wie dieser immer unbezahlbarer. Enorme Schuldenberge machen gerade die von Hungersnöten am stärksten betroffenen Länder noch reaktionsunfähiger.
2. Globale Lieferketten kreieren fragile Abhängigkeitsverhältnisse
Überwiegen die Nachteile globaler Lieferketten mittlerweile ihren Nutzen? Diese Frage wurde bereits in den ersten zwei Jahren der COVID-19-Pandemie diskutiert. Die Auswirkungen des Virus stellten insbesondere die Volkswirtschaften afrikanischer Länder hart auf die Probe. Exportverbote, Mobilitätseinschränkungen und unsolidarische politische Maßnahmen reicher Länder verursachten den ersten Abfall des afrikanischen Bruttoinlandsprodukts seit 25 Jahren. Expert*innen schätzen, dass afrikanische Länder frühestens 2025 das wirtschaftliche Vorkrisenniveau wiederhergestellt haben werden.
Die pandemische Lage zeichnete ein klares Bild: Unsere globalisierte Handelswelt ist nicht auf globale Krisen wie eine Pandemie oder die immer drastischeren Auswirkungen der Klimakrise vorbereitet. Im Zweifel wird sich in reichen Ländern für protektionistische Maßnahmen entschieden, während von Armut betroffene Regionen zurückgelassen werden. Nicht umsonst brauchen wir ein umfassendes Liefergesetz, das Akteur*innen entlang der gesamten Lieferketten in die Verantwortung nimmt. Produzent*innen und Konsument*innen in Ländern des Globalen Südens laufen angesichts globaler Notsituationen am ehesten Gefahr, Hunger zu leiden, Nahrungsmittelengpässe zu erleben und von Ungerechtigkeiten betroffen zu sein.
Das ist nun bei den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine nicht anders. Der ghanaische Finanzminister Kenneth Ofori-Atta bemerkte erst kürzlich, dass afrikanische Länder die Region außerhalb der Ukraine sind, die am stärksten vom Krieg betroffen seien. 16 Länder des Kontinents beziehen den Großteil ihres Getreides aus Russland und der Ukraine. 2020 importierten afrikanische Länder landwirtschaftliche Produkte im Wert von 4 Milliarden US-Dollar aus Russland – 90 Prozent davon Weizen. Der Kontinent ist also stark abhängig vom „Brotkorb der Welt“, wie Russland und die Ukraine gern genannt werden. Dass Felder in der Ukraine nicht bestellt, Ernten nicht eingefahren und Exportmengen nicht aufrechterhalten werden können, hat in afrikanischen Ländern daher verheerende Auswirkungen. Auch die Preise für andere Grundnahrungsmittel in vielen afrikanischen Ländern wie Reis sind infolge des Kriegs gestiegen. Unsichere Lieferrouten in der Schwarzmeerregion werden die sowieso schon kritische Ernährungslage weiter verschärfen und politische Unruhen anheizen.
3. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern brauchen Unterstützung
Expert*innen sind sich einig: Um SDG2 zu erreichen, also weltweiten Hunger zu besiegen, sind wir maßgeblich auf die Stärkung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern angewiesen. Aktuell produzieren wir weltweit zwar ausreichend Lebensmittel, die allerdings bei Millionen von Menschen nie ankommen. Eine nachhaltige Umgestaltung unseres globalen Ernährungssystems ist unsere einzige Chance, für kommende Krisen resilienter zu werden und weltweit für Ernährungssicherheit zu sorgen.
Schon vor dem Krieg in der Ukraine war die globale Gemeinschaft weit vom Erreichen des SDG2 entfernt. Bereits seit mehreren Jahrzehnten werden Lieferketten für Nahrungsmittel zunehmend komplexer. Insbesondere Kleinbäuerinnen und Kleinbauern kämpfen mit extremer Unsicherheit aufgrund der Schwankungen am Weltmarkt – sie haben oft keinen Einfluss auf die Preisgestaltung und können sich somit auch in den seltensten Fällen ein finanzielles Sicherheitsnetz schaffen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie in Krisenzeiten höhere Produktionskosten, Ernteausfälle oder Exportstopps kaum abfedern können.
Ein Beispiel: Infolge des Kriegs haben sich Düngerpreise in Kenia verdoppelt. Russland ist unter den weltweit größten Exporteuren für wichtige Inhaltsstoffe in Düngermitteln. In vielen afrikanischen Ländern wird der drastische Anstieg in Produktionskosten bedeuten, dass Kleinbäuerinnen und Kleinbauern weniger anpflanzen und dementsprechend auch ernten werden können. Lokale Alternativen gibt es häufig kaum oder gar nicht, da sich seit Jahrzehnten auf Importe von außerhalb Afrikas gestützt wird. Auch steigende Benzinpreise treffen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern am härtesten. Mit sowieso schon geringen Ressourcen zum Betreiben ihrer landwirtschaftlichen Maschinen und oft sehr schlechter Anbindung an lokale Märkte und Städte bedeuten hohe Spritpreise eine Verschärfung der Krise.
Auf kurze Sicht ist eine ausreichende Finanzierung von Organisationen wie dem World Food Programme (WFP) dringend notwendig. Langfristig zeigen die sich aktuell überlappenden Krisen, dass wir auf eine nachhaltige, umweltfreundliche und insbesondere lokale Produktion umstellen müssen, um Ernährungsunsicherheit vorzubeugen. Der Schlüssel liegt hier in der politischen und finanziellen Stärkung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Als Rückgrat der Nahrungsmittelversorgung sind rund zwei Milliarden Menschen weltweit, insbesondere in Afrika und Asien, von ihrer Produktion abhängig. Wenn Entscheidungsträger*innen sich entschließen würden, ihren Schutz zur Priorität zu machen, kämen wir SDG2 einen gewaltigen Schritt näher.
Aktuell ist es vielleicht deutlicher als je zuvor: Krisen überlappen sich und treffen durch die Bank weg die von Armut betroffenen Regionen der Welt am stärksten. Die G7-Staats- und Regierungschef*innen müssen ihrer Verantwortung gerecht werden und diese tiefgreifenden Zusammenhänge erkennen. Mehr noch: Sie sollten während der diesjährigen G7-Präsidentschaft Deutschlands endlich den Weg ebnen, um Krisenmanagement künftig auf die Komplexitäten unserer globalisierten Welt abzustimmen und sicherstellen, dass Schutz für die Vulnerabelsten priorisiert wird. Keine der aktuellen globalen Herausforderungen kann losgelöst von ihrem Netz an Kausalitäten und Auswirkungen betrachtet werden.